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Famulatur

»Zu hundert Prozent dabei«

Elisabeth Seidel studiert im siebten Semester Medizin. Während der Famulatur in einer Berliner Hausarztpraxis sitzt die 22-Jährige zum ersten Mal allein einem Patienten gegenüber. Welche Erfahrungen macht sie?

Ärztin öffnet die Tür zum Patientenzimmer
Praxisluft – und ein eigenes Sprechzimmer: »Ich habe davor schon in einer Praxis hospitiert, damals aber vor allem daneben gesessen und zugehört. Die Famulatur jetzt ist anders«, sagt Elisabeth Seidel. Einen Monat verbringt sie zurzeit in einer hausärztlichen Gemeinschaftspraxis.

Ein freundliches, helles Sprechzimmer in einer Hausarztpraxis in Berlin Prenzlauer Berg, die Einrichtung modern, an der Wand eine Behandlungsliege, im Regal Fachbücher und Ordner. Hinter dem Schreibtisch: eine Frau im weißen Kittel. Souverän wirkt sie, Stethoskop um den Hals, Patientenakte auf dem Tisch – aber ist sie für eine Ärztin nicht ein bisschen jung? Bevor beim Patienten Zweifel aufkommen, stellt sie klar: »Ich bin Elisabeth Seidel. Ich bin Studentin. Und ich werde Sie jetzt untersuchen. Die Ärztin wird dann gleich nach Ihnen schauen.«

Elisabeth Seidel studiert im siebten Semester Medizin. Während ihrer Famulatur sitzt die 22-Jährige zum ersten Mal allein einem Patienten gegenüber. Aktuelle Beschwerden, Vorerkrankungen, alles fragt sie gewissenhaft ab. »Im Krankenhaus heißt es immer schnell, schnell. Hier lernt man, auf jede Kleinigkeit zu achten«, sagt sie. Grippe? Dann wird die Lunge abgehört, um eine Lungenentzündung auszuschließen. Kopfschmerz? Der muss neurologisch abgeklärt werden. Ein Patient hat blaue Lippen? Das könnte ein wichtiges Symptom sein. Als Student laufe man in der Hausarztpraxis Gefahr, Dinge zu unterschätzen, findet Seidel. »Man denkt, man weiß viel, zum Beispiel, wie man eine Erkältung erkennt. Wenn man aber nicht ganz genau hinschaut, macht man Fehler.«

 

Nicht nur zuschauen, sondern machen

Die Praxis, in der Elisabeth Seidel ihre Famulatur macht, ist eine Gemeinschaftspraxis. Drei Ärzte teilen sich die Aufgaben: den Patientenstamm, die Behandlungsräume und das Praxispersonal. So wie sie arbeitet auch die Studentin flexibel im Schichtdienst. Los geht es oft schon um 8 Uhr mit einer Besprechung, dann richtet sich Seidel im Sprechzimmer ein und bittet die Wartenden nach und nach herein. Teilweise sitzt sie dann ganz allein hinterm Schreibtisch, manchmal nimmt ihre Betreuerin Dipl.-Med. Antje Sommerfeldt auf einem Hocker daneben Platz. Ohne dass die den Patienten gesehen hat, verlässt niemand die Praxis. »Meine Erwartung war: Ich schaue hier ein bisschen zu«, sagt Seidel lachend. »Jetzt bin ich zu 100 Prozent dabei.«

Eine sogenannte Hausarztfamulatur ist Pflicht im Medizinstudium. Das sieht die geltende Approbationsordnung vor. Eine Horizonterweiterung gegenüber dem Blockpraktikum, in dem die Studierenden oft nur stundenweise in der Praxis sind und hauptsächlich beobachten und zuhören – und auch eine ganz andere Erfahrung als die Klinikfamulatur, die Elisabeth Seidel letztes Jahr gemacht hat: »Auf einer chirurgischen Nachsorgestation habe ich das komplette Kontrastprogramm erlebt, Organtransplantationen zum Beispiel. Das hier ist eine ganz andere Medizin. Und es ist vielfältiger, als ich dachte.«
 

Wichtigste Kompetenz: der Sinn fürs Zwischenmenschliche

Mit Patienten sprechen, ihnen zuhören, um so zu einer Diagnose zu kommen – auch in Seidels Modellstudiengang an der Charité steht das auf dem Lehrplan. Nur eben, dass die Patienten dort von Schauspielern dargestellt werden. In der Praxis geht es um echte Beschwerden. »Man braucht unheimlich viel Empathie für die Menschen, die zu einem in die Sprechstunde kommen. Das ist eine Fähigkeit, die man, glaube ich, nur schwer lernen kann«, sagt Elisabeth Seidel. Oft erfordert das ganz besondere Geduld, trotz vollem Wartezimmer. Ein Teenager, der weint, Bauchschmerzen hat, aber kaum mehr sagt? »Viele erwarten von ihrer Ärztin auch psychischen Rückhalt. Es braucht viel Kraft, eine psychosomatische Erkrankung nach der anderen zu behandeln. Damit umzugehen und den Patienten zu unterstützen, ist eine wichtige Kompetenz«, stellt Seidel fest.

Geht es um die Patientenbeziehung, ist ihre Betreuerin Antje Sommerfeldt natürlich im Vorteil: Die Allgemeinmedizinerin hat ihre Praxis bereits seit 14 Jahren am gleichen Standort, kennt von einigen Patienten die Familiengeschichte, manchmal auch Eltern und Geschwister, und kann sich deshalb gut in deren Perspektive einfühlen. Dennoch macht Sommerfeldt auch als erfahrene Ärztin immer wieder Fortbildungen – kürzlich etwa in Psychosomatik. Und auch auf das, was ihre Famulantin von der Uni mitbringt, ist sie neugierig. »Dann frage ich schon mal: Was lernt ihr denn gerade so in der Orthopädie?«

 

Theoretisch keine Schwierigkeit – in der Praxis gar nicht so leicht

Auch in der Medizin gilt eben: Theorie und Praxis sind zwei Dinge, und die große Herausforderung ist, beide zu verbinden. Beim Impfen zum Beispiel. »Als Student denkt man: Man nimmt einen Muskel und spritzt da rein – wo ist die Schwierigkeit? Aber es ist viel mehr. Die Bewegungsabläufe und Handgriffe muss man abspeichern.« In der Praxis sind zurzeit viele verunsicherte Patienten, die ihren Impfstatus überprüfen lassen und Beratung suchen – und ernst nehmen, was die junge Famulantin ihnen sachlich-kompetent erklärt. Ein Erfolg, auf den Elisabeth Seidel stolz ist. An manchen Tagen hat sie fünf Patienten geimpft, zuerst den Oberarm desinfiziert, die Injektion verabreicht, dann alles genau dokumentiert. »Learning by doing«, sei das eben, sagt Sommerfeldt dazu. Den Impfstoff so aufzuziehen, dass er nicht verunreinigt wird, ist beim ersten Mal gar nicht so einfach.

Umso wichtiger, dass die Atmosphäre im Team offen ist, der Umgang respektvoll, die Lernbereitschaft groß – nur so kann thematisiert werden, was beim nächsten Mal besser klappen sollte. Im Krankenhaus mit seinen Hierarchiestufen hat Seidel den Umgangston als durchaus rau wahrgenommen. In der Praxis hingegen gibt es mehr Raum, individuell auf die Patienten einzugehen. Die Arbeit sei dadurch flexibler, selbstbestimmter und alles in allem entspannter. Eine Niederlassung nach der Facharztausbildung und einigen Jahren Erfahrung im Krankenhaus kann sie sich deshalb sehr gut vorstellen.

 

Das nehme ich mit: für meine persönliche Laufbahn als Ärztin

Fäden ziehen, Blut abnehmen, Proben ins Labor schicken, EKG anlegen, Rezepte ausstellen (auch wenn die Ärztin die prüft und unterschreibt) – viele dieser Aufgaben hat Elisabeth Seidel mittlerweile übernommen. Bis zu 20 Patienten sieht sie jeden Tag. Dem einen geht es vielleicht nur um die Krankschreibung, der andere ist chronisch krank, möchte darüber sprechen und braucht ein neues Medikament. Dabei hat sie viel gelernt. »Wer hat wirklich schwere Schmerzen, wer einfach einen Muskelkater oder ist einfach nur traurig? Diese Differenzierung ist sehr wichtig, aber auch sehr schwierig«, sagt Seidel. »Das nehme ich mit. Für die nächsten Prüfungen mag das nicht so wichtig sein, für meine persönliche Laufbahn als Ärztin schon.«
 

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