Zum Hauptinhalt springen
Kommunikation mit Suchtpatient:innen

Suchtmedizin: Was muss ich wissen, um erfolgreiche Behandlungsgespräche zu führen?

Dr. Stefan Sachtleben ist Allgemeinmediziner und war Hausarzt mit eigener Praxis in Pirmasens. Während seiner Tätigkeit hat er über viele Jahre psychisch kranke und süchtige Menschen erfolgreich behandelt. Welche Kenntnisse, Erfahrungen und Gesprächstechniken haben ihm dabei geholfen?

Porträtbild von Dr. Stefan Sachtleben
Dr. Stefan Sachtleben ist heute wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum Allgemeinmedizin und am Kompetenzzentrum Allgemeinmedizin der medizinischen Fakultät der Universität des Saarlandes. Er ist Trainer für die Gesprächstechnik des Motivational Interviewing. ©Stefan Sachtleben

Lesedauer: 5 Minuten

Inwiefern werden Suchtkrankheiten anders von Gesellschaft und Medizin wahrgenommen als andere Krankheiten?

Suchtkrankheiten haben ein schlechtes Ansehen, gesellschaftlich, und in der Medizin. Die Medizin ist ungern bereit, sich mit der Suchtkrankheit von Patient:innen zu beschäftigen. Wenn er oder sie zum Beispiel gleichzeitig einen Herzinfarkt hat, dann konzentrieren wir uns auf den Herzinfarkt. Die Suchtkrankheit ist dann sein oder ihr eigenes Problem.

Müssen wir das Thema doch ansprechen, gehen wir innerlich auf Distanz. Die Patient:innen gehen nach Hause und hatten keine Gelegenheit, über ihre Problematik, die wahrscheinlich Ursache für die anderen gesundheitlichen Beschwerden war, zu sprechen.

Wie erklären Sie sich das?

Es gibt einen gesellschaftlichen Konsens, dass wir mit anderen Menschen über ihre seelischen Probleme nicht sprechen. Das gilt für Suchtprobleme genauso wie für Angstzustände oder ernstere psychiatrische Störungen wie Psychosen. Häufig wird das als Charakterdefekt angesehen, nicht als ein medizinisches Problem. Wir reden nicht darüber, weil uns das unangenehm ist und es erweckt in uns ein Gefühl der Hilflosigkeit, der Überforderung.

Hausärzt:innen sind in der Regel nicht für ein Gespräch über seelische Konflikte ausgebildet. Das heißt, es ist nicht nur eine mögliche Ablehnung seelischer Konflikte, sondern es ist auch eine Hilflosigkeit, wie man damit umgehen soll.

Wie kann sich in diesem Spannungsfeld eine gute Kommunikation zwischen Ärzt:innen und Patient:innen aufbauen?

Der allererste Schritt ist, dass ich mir bewusst mache: Ich habe selbst Vorbehalte gegen Suchtkranke. Sucht wird sozial diskriminiert und ich selbst bin ein Medium dieser Diskriminierung.

Darüber hinaus ist es mir unangenehm, über seelische Dinge zu sprechen. Ich muss mir klarmachen, dass seelische Konflikte und psychische Krankheiten für mich als Arzt oder Ärztin eine Herausforderung sind, die ich nicht intuitiv bestehen kann. Ich muss eine Wahrnehmung dafür entwickeln und erkennen: Ich habe hier eine Person mit einem psychischen Problem. Darauf muss ich reagieren und mich bewusst entscheiden, offen zu sein und zuzuhören.

Der zweite Schritt ist: Ich muss mir darüber im Klaren sein, dass meine Patientin oder mein Patient ein chronisches Problem hat, das sich über lange Zeit hinziehen wird und an dem nur sie oder er selbst etwas ändern kann. Meine Aufgabe als Mediziner:in ist, diesen Patient:innen als Ansprechpartner:in zur Verfügung zu stehen, den Weg der Veränderung einzuleiten und zu begleiten. Wichtig ist auch, sie nicht zu kritisieren, wenn sie rückfällig geworden sind. Rückfälle sind Teil der Erkrankung und damit Teil der Therapie.

Wie sind Sie vorgegangen, wenn jemand rückfällig wurde?

Der Rückfall ist ein Therapieproblem. Ich muss eine Rückfallbearbeitung machen, herausfinden, was geschehen ist. Das Entscheidende in der Therapie ist: Patient:innen dürfen immer mit ihren Problemen kommen und sich angenommen fühlen. Ich muss bereit sein, darüber zu reden. Das ist ein Punkt, der bei vielen Kolleg:innen Stress auslöst, weil sie befürchten, dass sie zu wenig Zeit dafür haben.

Wie haben Sie die Zeit für diese Patient:innen gefunden?

Die Lösung ist: Wenn man weiß, worüber man redet, kann man diese Gespräche kurzhalten. Man muss über das sprechen, was für die Patientin oder den Patienten wirklich wichtig ist. Klappt das, kann man gute Gespräche in kurzer Zeit führen.

Worauf muss ich achten, damit das funktioniert?

Ich muss als Ärztin und als Arzt von der Gesprächsdominanz wegkommen. Gesprächsdominanz meint, dass ich als Mediziner:in doch am besten weiß, wie es ist und was passieren muss. Diese Dominanz funktioniert in der Behandlung psychisch kranker Menschen nicht. Wir müssen uns auf eine partnerschaftliche, kooperative Ebene begeben, bei der wir sagen: Ich höre dir zu, berichte mir. Ich möchte wissen, wie es dir geht, was bei dir los ist und dich nicht belehren. Wenn ich diese Haltung finde, kann ich helfen.

Ist das die Basis für ein enges Vertrauensverhältnis zwischen Ärzt:innen und Patient:innen? 

Ich muss als Ärztin und als Arzt bereit sein, dieses Vertrauensverhältnis meinen Patient:innen anzubieten und es aushalten, wenn sie mich über Monate oder Jahre mit ihrem Problem aufsuchen.

Es gibt Menschen, die von sich aus ein Gespür für Gesprächsführung haben. Warum ist es sinnvoll, sich trotzdem professionell damit auseinanderzusetzen?

Es ist wichtig zu verstehen: Du bist nicht der Freund oder die Freundin deiner Patient:innen. Dir gelingt es, Nähe herzustellen, weil du sensibel bist. Du musst trotzdem lernen, Gespräche und die Beziehung professionell zu gestalten. Warum? Damit Patient:innen sich in dem Gespräch wiederfinden und nicht im Dialog verlieren.

Welche Techniken bieten sich für die Gesprächsführung an?

Für eine professionelle Beziehungsgestaltung brauche ich eine Gesprächsführung mit entsprechender Technik. Wir haben mit »Motivational Interviewing« – motivierende Gesprächsführung – eine ausgearbeitete Gesprächstechnik. Es gibt viele Schulungsmöglichkeiten, auch andere Gesprächstechniken. Aber Motivational Interviewing fokussiert sich auf Suchtkrankheit und psychische Krankheit. Ich habe diese Technik gelernt und bin auch Trainer darin. Ich meine, dass Hausärzt:innen von dieser Gesprächstechnik am meisten profitieren.

Was ist Motivational Interviewing (MI)?

MI ist ein nicht-direktives und patientenzentriertes, nicht-psychotherapeutisches Verfahren, das den gleichberechtigten Dialog über Veränderung in den Gesprächsfokus rückt. Die intrinsische Motivation der Patient:innen soll geweckt werden.

Auf welchen Prinzipien beruht MI?

- interessierte, empathische und respektvolle Grundhaltung
- bewusster Verzicht auf Konfrontation und Manipulation durch ergebnisoffenen Gesprächsstil
- fokussiert vorhandene Ressourcen und intrinsische Motivation der Patient:innen; Patient:innen entscheiden selbst wie sie diese einsetzen wollen
- aktives Zuhören und offene Fragen sind zentral

Welche Basismethoden gibt es?

- aktives/reflektierendes Zuhören
- offene Fragestellungen
- Bestätigung und Würdigung
- regelmäßiges Zusammenfassen

 

Wie kam es, dass Sie sich mit dieser Thematik intensiv auseinandergesetzt haben? 

Ich war noch kein Jahr Niedergelassener, da kam jemand von der Drogenberatung zu mir und fragte mich, ob ich bereit wäre, eine suchtkranke Patientin mit Methadon zu substituieren. Ich habe zugestimmt.

Suchtpatient:innen sind aber anders als andere Patient:innen, gerade Opiatpatient:innen. Sie leben oft in einer desolaten sozialen Situation, besorgen sich ihre Droge illegal. In meiner Praxis begann sich das Klima negativ zu verändern, sodass ich beschlossen habe, mit der Substitution aufzuhören. Dann gab es ein Schlüsselerlebnis auf einem Seminar mit einer engagierten Suchttherapeutin. Der habe ich mein Leid geklagt. Statt meine Vorwürfe und mein Selbstmitleid zu bestätigen, hat sie mich vor der Seminarteilnehmerschaft zurechtgewiesen: Das Problem seien nicht meine Patient:innen, sondern ich. Ich könne nicht mit ihnen umgehen, ich sei aggressiv und herablassend. Ich war sauer.

Am nächsten Tag komme ich morgens in die Praxis und die erste Patientin in meinem Sprechzimmer war eine Patientin aus der Substitutionsgruppe. Im Vorbeigehen, ohne Begrüßung, sagte ich zu ihr: Na, wieder rückfällig gewesen? Es war eine so herablassende, verletzende Art diese Frau anzusprechen. Da habe ich verstanden: Ich bin genau, wie die Suchttherapeutin es gesagt hat. Ich war zutiefst schockiert.

Das brachte die Wende?

Von dem Tag an war mir klar: Du musst anders mit Suchtpatient:innen umgehen. Ich habe angefangen, mich intensiv mit Suchtmedizin, Psychiatrie und Gesprächstechnik zu befassen.

Wie haben Sie das in der Praxis umgesetzt? 

Ich habe mit meinem Praxis-Team intensiv Gespräche nachgearbeitet. Wir haben uns zusammengesetzt und analysiert. Im Rollenspiel haben wir aufgearbeitet, was besser hätte laufen können. Dabei ist Folgendes wichtig: Wir haben als Behandler:innen auch Wünsche an unsere Patient:innen, von denen wir wollen, dass sie ernst genommen werden. Diese Gespräche sind auch deshalb nicht einfach, weil ich damit etwas transportieren will.

Was hat diese Art der Kommunikation bewirkt?

Die Praxis hat sich verändert. Alles wurde ruhig: die Menschen und die Gespräche und ich. Ich habe diese Technik später auf alle Patient:innen angewendet – und sie waren dafür sehr dankbar. Die veränderte Gesprächstechnik hat auch mein Leben leichter macht.
 

Du willst noch mehr spannende Infos rund um die Medizin erfahren?

Folge »Lass dich nieder!« auf Instagram und verpasse keine Neuigkeiten mehr.
Jetzt abonnieren!

Teaser-Spalte überspringen
Ende der Teaser-Spalte